Philosophische Überlegungen zu ITIL

Keine Angst, ich wechsele nicht das Fach oder habe mich im Blog vertan. Allerdings möchte ich ein paar Grundgedanken zu ITIL, seiner Implementierung und zu seinem Erfolg oder Misserfolg anstellen.

 

Vor einiger Zeit ist mir das Buch von Erich Fromm „Haben oder Sein“ wieder einmal in die Hände gefallen. Beim Durchblättern sind mir einige meiner alten Anmerkungen ins Auge gesprungen, die mich zum Nachdenken über ITIL brachten.

In der gesamten ITIL Literatur und den Fachbeiträgen zu dem Themenbereich stößt mir als altem Germanisten schon lange die Substantivierung von Tätigkeiten auf. Aber ein Substantiv bezeichnet eigentlich immer Dinge die man besitzen, begreifen kann. Tätigkeiten hingegen werden durch Verben ausgedrückt. Tätigkeiten und Prozesse kann man nicht festhalten, sondern nur erleben.

 

Vor diesem Hintergrund müsste selbst der Begriff „Service“ als Tätigkeit beschrieben werden. Denn nach der Definition ist ein Service eine Interaktion zwischen Service Provider und Kunden, wird zeitgleich produziert und verbraucht, ist flüchtig. Im Gegensatz zu einem Produkt, das physikalisch produziert und greifbar ist. Also anders umschreiben, einen neuen Begriff wählen? Könnte schwierig werden.

 

Nachvollziehbarer wird das Ganze an einem Change, einer Änderung. „Änderung“ ist die Substantivierung von „ändern“. Die Änderung gibt es nicht. Ich kann sie nicht festhalten. Ich kann nur feststellen, was ist bzw. war die Ausgangssituation und was soll oder wurde geändert: Wurde eine alte Komponente durch eine neue ersetzt? Wurde die Kapazität des Netzwerks erhöht?

 

Auch ein Incident, eine Störung gibt es nicht. Und schon gar nicht kann ein Service gestört sein. Vielmehr kann der Service nicht erbracht werden, weil eine Komponente, die ich brauche, um den Service zu erbringen, ausgefallen ist. Von daher ist es auch eigentlich unsinnig, Service Level zu vereinbaren. Der Service kann nicht verfügbar sein, per Definition. Man kann nur vereinbaren, wann und wie ein Service nutzbar sein muss.

 

Warum diese Haarspalterei? Weil man an dieser unterschiedlichen Sichtweise den Erfolg oder Misserfolg von ITIL in der Praxis festmachen kann. Dies wurde mir bei der Lektüre von Fromm und den Gedanken über meine langjährigen ITIL Projekte klar.

 

Es ist ein riesengroßer Unterschied, ob ich „Wissen über ITIL habe“ oder „weiß, wie ITIL funktioniert“. „ITIL Wissen haben“, bedeutet, das Gelernte festzuhalten, sich einzuprägen, nachzuschlagen, um etwa eine Prüfung zu bestehen. „Wissen, wie ITIL funktioniert“, ist Teil des gestaltenden Denkprozesses. „Zuhören“, um den eigenen Denkprozess anzustoßen, neue Fragen zu stellen, neue Ideen zu entwickeln. Dies kann nur gelingen, wenn die Wissensvermittlung „Inter-esse“ im Wortsinne weckt: „dazwischen sein“, „dabei sein“.

 

„Sein“ im Frommschen Sinne verfolgt die Theorie des „Wohl-Seins“, einer emotionalen Erfahrung und des ursprünglichen Sinns von „Profit“ = „Gewinn für die Seele“. Daraus ergibt sich die Frage: “Was ist gut für den Menschen“. Im Gegensatz dazu „Haben“, etwas Materielles besitzen, festhalten, nach Hause tragen. Dieses Besitzstandsdenken ist nur auf den eigenen persönlichen Bereich fixiert und strebt zu immer mehr haben wollen. Immer mehr „ITIL Wissen haben“, das ITIL Wissen ständig erweitern? Was bringt das?

 

Um ITIL also erfolgreich anzuwenden, reicht es nicht, „ITIL Wissen zu haben“, sondern ich muss „wissen, wie ITIL funktioniert.“

 

Dieser eine Satz hat mir plötzlich die Augen geöffnet, warum einige ITIL Projekte erfolgreicher waren als andere. Überall dort, wo man verstanden hat, dass ITIL eine best practise Sammlung von guten Ideen ist und keine Vorgabe, war man erfolgreich. Überall dort, wo man sich von ITIL inspirieren ließ und eigene Ideen entwickelt hat, war man erfolgreich. Sinnigerweise hat man dort auch nicht alle ITIL Begriffe übernommen oder die vorgegebenen Prozesse eingeführt, sondern zum Teil eigene Begriffe gewählt, die schon länger gesetzt waren. Die Prozesse wurden angepasst, zusammengelegt oder sogar weggelassen. Z.B. hat ein erfolgreiches Change Management Projekt Change und Release Management als einen einheitlichen, vereinfachten Prozess aufgesetzt. Der gesamte Genehmigungsworkflow und die Testschleifen liefen außerhalb des Prozesses und waren über Schnittstellen angebunden. Auch die Rollen wurden an die bestehende Organisationsstruktur angepasst, inklusive der Rollennamen.

 

Die ITIL Wissensvermittlung führte zu eigenen kreativen Denkprozessen in diesem Unternehmen. Die Mitarbeiter hatten großes Interesse an diesem Projekt, waren dabei und fühlten sich wohl. Also Fromm im reinsten Sinne. Ich als ITIL Berater fühlte mich in diesem Projekt mehr als Moderator, nicht als der ITIL Experte.

 

Die Quintessenz aus diesen Überlegungen ist für mich, dass ich zukünftig in Seminaren oder Beratungsprojekten das „Interesse“ aller Beteiligten brauche, damit sie sich „wohlfühlen“ und lernen, „wie ITIL funktioniert“.

 

Autor: Dr. Guido Hoffmann

 

Literatur:

Erich Fromm, Haben und Sein, München 1976

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